„Und ob ich schon wanderte im finstern Tal …“

„Und ob ich schon wanderte im finstern Tal …“

(Psalm 23,1-4)

 

 

Der HERR ist mein Hirte, mir wird nichts mangeln. Er weidet mich auf einer grünen Aue und führet mich zum frischen Wasser. Er erquicket meine Seele. Er führet mich auf rechter Straße um seines Namens willen. Und ob ich schon wanderte im finstern Tal, fürchte ich kein Unglück; denn du bist bei mir, dein Stecken und Stab trösten mich. (Lutherbibel)

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Im Rahmen der Sommerpredigtreihe unter der Überschrift „Ich singe dir mein Lied“ habe ich mich entschieden, heute über Psalm 23 und vor allem über einen Satz aus diesem schönen Psalm zu predigen. Der Satz lautet: „Und ob ich schon wanderte im finstern Tal, fürchte ich kein Unglück; denn du bist bei mir“. Wie sollen wir, liebe Gemeinde, diesen Satz verstehen? Die Frage nach dem Verfasser ist nicht eindeutig zu klären und der Psalm wurde höchstwahrscheinlich in der nachexilischen Zeit (5. Jh. v. Chr.) geschrieben. Die Verwendung der Gegenwarts- und der Zukunftsform im ganzen Psalm verleiht dem Psalm jedoch einen zeitlosen Charakter. Und doch wollen wir zusammen darüber nachdenken, welche Bedeutung diese Worte für uns heute haben.

 

Zuerst begegnet uns das Wort ‚wandern‘. Und wir können wahrscheinlich davon ausgehen, dass das Leben hier als Wandern beschrieben wird. Ein Weg hat immer ein Ziel. Während einer Wanderung bewegen wir uns, unser Körper bewegt sich, alles in uns bewegt sich und Bewegung ist sehr wichtig. Aber nicht nur unser Körper bewegt sich, auch unser Inneres, unser Denken, unsere Besinnlichkeit sind während einer Wanderung ganz wach. Wir können beim Gehen beten, wir können für unser Leben beten, für das Leben anderer, wir können vergeben, wir können uns beruhigen, wir können entscheiden, neu anzufangen, wir können entscheiden, entschlossen zu sein. Beim Gehen kommen uns Gedanken in den Sinn und manchmal möchten wir sie einfach aufschreiben, bevor sie in Vergessenheit geraten. So ist das Leben immer ein Weg nach vorne, es kann nicht rückwärtsgehen. Nicht nur, weil wir uns in einem zeitlichen Sinne dem Ende nähern, sondern weil wir uns, indem wir auf den Wegen des Lebens wandern, auch der Vollendung des Lebens nähern.

 

Und wenn wir den Psalm weiterlesen, erfahren wir, dass es um eine Wanderung durch ein Tal geht, genauer gesagt, durch ein finsteres Tal, ein Tal der Todesschatten, wie es im hebräischen Original heißt. Was sollen wir tun, wenn wir auf unserem Weg durch ein Tal hindurch müssen? Es kostet viel mehr Zeit und Mühe, ein tiefes Tal zu durchqueren als auf geraden Wegen zu gehen, denn die Talwege sind nicht nur länger, sondern auch schwieriger und dunkler. In ein Tal zu gehen, bedeutet bergab zu gehen. Und wenn man bergab geht, hat man den Eindruck, dass man sich rückwärts bewegt. Aber das stimmt nicht. Bergabgehen ist zwar auch eine Vorwärtsbewegung, aber eine langsamere Vorwärtsbewegung. Um bergab zu gehen, braucht man gute Schuhe und innere Kraft. Wann immer uns Täler im Leben begegnen, denken wir manchmal, dass wir irgendwo auf einem abschüssigen Weg anhalten sollen und vielleicht dort den Rest unseres Lebens verbringen. Oder vielleicht versuchen wir umzukehren, um einen anderen Weg für das Leben zu finden. Aber manche Täler im Leben lassen sich nicht vermeiden. Und manchmal lassen sich die Ziele des Lebens nur erreichen, wenn man bergab geht, um dann wieder bergauf gehen zu können.

 

Aber was sind die finsteren Täler im Leben, von denen der Psalmist spricht? Muss es finster im Leben sein?

 

In der Schöpfungsgeschichte lesen wir, dass Gott Licht von Finsternis trennt und erst dadurch die Schöpfung und das Leben möglich werden. Wenn also Dinge oder Wesen ans Licht kommen, erhalten sie Leben und können bestehen. Aber die Finsternis wird durch die Schöpfung nicht vollständig beseitigt. Licht und Dunkelheit sind die beiden Seiten eines jeden Lebens. Und wir können Gott so verstehen, dass Gott ständig dabei ist, die Schöpfung zu vollenden, d.h. Gott ist ständig dabei, die Finsternis zu überwinden.

 

Das heißt, das menschliche Leben hat seine hellen Tage, aber auch dunkle oder schwierige Zeiten. Wir alle wissen, wie sich diese schwierigen Zeiten anfühlen können. Es können Zeiten der Krankheit, des Verlustes, der Armut, des Krieges, der Angst, der Unsicherheit, der Ungerechtigkeit, des Alleingelassenseins und der Einsamkeit sein. Manchmal ist es die Angst, etwas oder jemanden zu verlieren. Und wir wissen, dass Gott immer noch dabei ist, Licht von der Dunkelheit zu trennen und somit Leben zu ermöglichen. Können wir dazu beitragen, nämlich Leben zu ermöglichen und zwar so, dass menschliches Leben seine Ziele erreichen kann? Das würde bedeuten, auch in den dunkelsten Tälern des Lebens das Licht nicht aufzugeben, es nicht zu verlieren. Wie können wir das Licht in Zeiten von Krankheit, von Unsicherheit, oder Verlust bewahren? Eins scheint mir sehr wichtig zu sein: Wir sollen die dunklen oder schwierigen Seiten unseres Lebens nicht verleugnen oder zu verstecken versuchen, und wenn wir es können, sollen wir nicht vor ihnen davonlaufen. Denn diese gehören zum menschlichen Leben, zu jedem menschlichen Leben. Und im Psalm lautet es: „ob ich schon wanderte im finstern Tal, fürchte ich kein Unglück“. Das bedeutet nicht, dass das Unglück verschwindet, sondern dass wir den Mut haben dürfen und können, auch in den dunkelsten Zeiten unseres Lebens das Licht nicht aufzugeben, sondern ihm immer folgen zu wollen. Und die Pointe, liebe Gemeinde, ist, dass wir nur durch Mut zum Licht kommen können. Denn wenn wir uns vor den Verlusten im Leben fürchten, werden wir nicht in der Lage sein, in die Täler des Lebens zu gehen und dann wieder herauszusteigen, um auf geraden Wegen zurückzukehren.

 

Mut ist in diesem Sinne die Beharrlichkeit, trotz der Finsternis das Licht zu tragen. Es ist der Mut, die Finsternis des Tals auf sich zu nehmen, und in diesem Sinne beinhaltet der Mut immer ein Risiko, denn wir nehmen uns vor, in das Tal zu gehen. Was ist die Quelle dieses Mutes? Die Quelle dieses Mutes sind nicht unsere eigenen Fähigkeiten oder Kompetenzen, die wir im Leben erworben haben. Im Psalm heißt es: „denn du bist bei mir“, und ‚du‘ steht hier für ‚Herr‘, d. h. im hebräischen Original für ‚Jahwe‘, den alttestamentlichen Namen Gottes, der allen Lebewesen Existenz und Sein ermöglicht. Denn du, Jahwe, der du das Leben ermöglichst und der immer noch in uns und durch uns wirkst, bist mit uns und in uns.

 

Ich werde meine Gedanken durch zwei Beispielen erläutern. Das erste Beispiel entnehme ich der Schriftlesung (Matthäus 13,44-46), die wir heute gehört haben. Ein Mann findet einen Schatz, der in einem Feld versteckt ist. Er geht hin, verkauft alles, was er hat, und kauft dieses Feld. Dieses Beispiel beschreibt den Mut sich für das einzusetzen, was für das Leben wirklich wichtig ist. Also, sich nicht zu fürchten dafür etwas zu verlieren. Das setzt voraus, dass wir wissen, was uns im Leben wichtig ist. Ich habe dies am Anfang der Predigt als Ziel eines Lebensweges bezeichnet. Also nicht das, was andere für wichtig halten zählt, sondern das, was ‚mein‘ Leben, oder ‚dein‘ Leben erfüllt, sodass wir in der Routine des Alltags nicht das Nötige und das Wichtige übersehen und die Liebe verloren geht.

 

Zweitens möchte ich die Einsamkeit als ein Beispiel für ein dunkles Tal nehmen. Und wir können das verstehen, weil Einsamkeit mit dem Gefühl zu tun hat, abgelehnt und allein gelassen zu werden. Es ist das Gefühl, nicht geliebt oder gewürdigt zu werden. Es ist das Gefühl großer Unsicherheit, weil es niemanden gibt, der sich um die allein gelassene Person kümmern wird. Daher können wir sagen, dass das Fehlen von Liebe und Wertschätzung das Fehlen von Licht zur Folge hat. Anders ausgedrückt: Die Liebe hat die Kraft, Leben zu schenken. Die Liebe hat die Kraft, Menschen aus der Dunkelheit zu holen. Vielleicht können wir über diese Aussage länger nachdenken. Die Liebe hat die Kraft der Schöpfung, denn sie kann den Menschen aus der Finsternis der Einsamkeit, der Unsicherheit und der Angst ins Leben und ins Licht holen. Und wir alle haben das Potenzial in uns als Spender der Liebe zu wirken und damit Spender des Lichtes zu sein. Wir können dies durch jeden Akt der Wertschätzung, der Liebe, der Ermutigung für andere tun. Wie kommen wir aber dazu? Und was, wenn wir uns selbst im Tal der Einsamkeit befinden? Wahrscheinlich, liebe Gemeinde, ist es so, dass nur wer sich seiner Einsamkeit bewusst ist und sie akzeptiert, kann die Einsamkeit der anderen sehen und sie aus ihrer Dunkelheit herausholen. Und wissen Sie? Wenn wir andere aus der Dunkelheit rausholen, werden auch wir mit ihnen aufgerichtet.

 

Liebe Gemeinde, lasst uns die dunklen Täler des Lebens nicht fürchten. Während wir durch die Täler des Lebens gehen, wird uns die Kraft gegeben, auszuhalten, zu bestehen und der Mut, aufrecht im Licht zu stehen. Jesus Christus hat den Tod nicht gefürchtet und durch seinen Mut und seine Liebe hat er die Finsternis überwunden und so bringt er uns alle ins Licht, wenn wir es auch wollen. Lasst uns diese Kraft aufrechterhalten, lasst uns alle Wege unseres Lebens mit Mut gehen und auch im finstern Tal im Herzen beten und singen: „fürchte ich kein Unglück; denn du bist bei mir“. Amen.

 

 

 

Sylvie Avakian

 

11.08.2024