Frei von allen Grenzen
(Römer 14, 7-13)
Zum Totensonntag
Denn keiner von uns lebt sich selbst und keiner stirbt sich selbst. Denn leben wir, so leben wir dem Herrn, und sterben wir, so sterben wir dem Herrn; ob wir nun leben oder sterben, wir gehören dem Herrn. Denn dazu ist Christus auch gestorben und auferstanden und wieder lebendig geworden, dass er sowohl über Tote als auch über Lebende Herr sei. Du aber, was richtest du deinen Bruder? Oder du, was verachtest du deinen Bruder? Wir werden ja alle vor dem Richterstuhl des Christus erscheinen; … So wird also jeder von uns für sich selbst Gott Rechenschaft geben. Darum lasst uns nicht mehr einander richten, sondern das richtet vielmehr, dass dem Bruder weder ein Anstoß noch ein Ärgernis in den Weg gestellt wird!
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Menschen sehnen sich nach Heimat. Dies ist zum Teil ein menschlicher Instinkt. Auch Kinder und Jugendliche streben danach, in Zukunft ein eigenes Zuhause zu haben, einen Ort, der ganz ihnen gehört, wo sie selbst entscheiden können, was sie tun und wie sie es tun, ohne dass andere sich einmischen. Die meisten (erwachsenen) Menschen haben bereits einen Heimatort und denken darüber nach, wie sie ihn vor Naturkatastrophen, Schicksalsschlägen und Feinden schützen können. Daher ist Sicherheit oft der Grund für den Bau des Heimatortes und auch dafür, ihn immer größer machen zu wollen und alles zu tun, um ihn vor Gefahren zu schützen und den Angehörigen durch zivilisierte, modernisierte Regeln und Lebenssysteme alles bereitzustellen, was sie für ein sicheres und „gutes“ Leben benötigen. Manchmal nimmt dieses Streben nach einer Heimat die Form eines Stammes an, vielleicht eines großen Stammes. Dort wird es Universitäten geben, Wissenschaften werden entwickelt, Wettbewerbe werden stattfinden, aber alles aus hauptsächlich dem einen Grund, die Heimat stark und sicher vor Gefahren zu halten. Auf der Suche nach Sicherheit für sein Leben verliert der Mensch aber seine eigene Freiheit. Er verliert seine Offenheit. Der Mensch opfert sogar sein Denken, seine mitfühlende und gerechte Art, das Leben zu verstehen und zu betrachten. All dies geschieht, weil er ausschließlich ein Leben für sich selbst führen will. Und doch übersieht, oder ignoriert er bei der Umsetzung seiner Pläne und Perspektiven, dass er nicht allein auf dieser Welt ist. Es gibt andere, andere Menschen, ganz wie er; Menschen, die sicher in ihrer eigenen Heimatstadt leben wollen. Sie wollen unter ihrem Feigenbaum sitzen und keine Angst vor anderen haben, die ihn aufschrecken könnten, wie der Prophet Micha schreibt (Micha 4,1-5).
So übersieht der Mensch auf der Suche nach Sicherheit, dass seine Freiheit, seine menschliche Realität, am besten zum Ausdruck kommt, wenn er im Herzen von allen Schutzmaßnahmen, Hüllen und Grenzen frei wäre.
Der griechische Philosoph Anaximander lehrte vor vielen Jahren, vor Platon und Aristoteles, etwas Ähnliches. Er sagte, dass die Wahrheit in den Wesen liegt, insofern sie grenzenlos sein können. Mit anderen Worten: Grenzenlosigkeit ist die Quelle des Wesens aller Wesen. Aber warum ist das so? Wir fühlen uns oft sicher, wenn wir Grenzen haben. Länder bauen Grenzen, um zu verhindern, dass andere in ihr Land kommen. Ein Beispiel dafür ist der von Präsident Trump 2017 angeordnete Bau einer Mauer entlang der Grenze zwischen den USA und Mexiko, damit keine Menschen aus Mexiko in die USA kommen. Ist das gut oder schlecht? Wir sind heute aufgerufen, andere nicht zu verurteilen. Das sagt uns zumindest der heutige Predigttext. Aber wir sind aufgerufen, nachzudenken. Das Problem mit Grenzen ist, dass sie verhindern, dass etwas von verschiedenen Seiten betrachtet werden kann. Wenn also eine Vase, z. B., von einer Seite zerbrochen ist und ich sie nur von der gegenüberliegenden Seite betrachte, kann ich den Bruch nicht sehen.
Ähnliches erleben wir in diesen Tagen in der Politik, da jeder Vertreter einer Partei die Probleme aus einer Perspektive betrachtet und darauf besteht, dass seine Perspektive die richtige ist. Ein weiteres Beispiel ist die Aussage, dass Fremde eine Gefahr für die Gesellschaft sind. Aber auch das ist eine sehr begrenzte Sichtweise. Man muss sich fragen: Warum sind Fremde zu Fremden geworden? Warum mussten sie ihr Land und ihre Heimat verlassen und anderswo Schutz suchen? Und mit jeder Frage wird sich die Wahrheit mehr und mehr zeigen und das, was verborgen war, wird sichtbar werden. Dann können wir etwas mehr über die wahre Gefahr erfahren, die diese Menschen dazu gebracht hat, ihre Heimat zu verlassen.
Grenzen erlauben uns nicht, das zu sehen, was sich hinter den Grenzen befindet. Grenzen schaffen eine Unterscheidung zwischen „wir“ und „sie“. Grenzen schränken unsere Perspektiven ein, sodass wir alles aus einem engen Blickwinkel wahrnehmen. Somit wird der Mensch in seinem Bestreben, sich selbst zu schützen zum Opfer der Grenzen, die er selbst errichtet hat. Die eigentliche Gefahr, liebe Gemeinde, kommt also nicht von außen, sondern von innen, von der Angst vor mangelnder Sicherheit und dem Wunsch nach Deckung. Dadurch wird der Mensch unsensibel, nicht nur gegenüber dem Leid anderer, sondern auch gegenüber seinem eigenen Leid.
In den folgenden Zeilen wird deutlich, wie schwierig es ist, sich in der Welt von Umhüllungen und Grenzen zu lösen, und wie derjenige, der denkt und Freiheit sucht, oft allein ist. Im
Folgenden lese ich ein paar Zeilen von Nietzsche, in denen er die Einsamkeit des Denkers beschreibt.
Die Welt—ein Tor
Zu tausend Wüsten stumm
und kalt!
Wer das verlor,
Was du verlorst, macht
nirgends Halt.
Nun stehst du bleich,
Zur Winter-Wanderschaft
verflucht,
Dem Rauche gleich,
Der stets nach kältern
Himmeln sucht.
…
Die Krähen schrei'n
Und ziehen schwirren Flugs
Zur Stadt:
—bald wird es schnei'n,
Weh dem, der keine Heimat hat![1]
Und im Lichte dieser Gedanken können wir den Predigttext verstehen: „Denn keiner von uns lebt sich selbst und keiner stirbt sich selbst. Denn leben wir, so leben wir dem Herrn, und sterben wir, so sterben wir dem Herrn.“ Wir sprechen oder hören diese Worte bei jeder Beerdigung. Liebe Gemeinde, im Tod fallen alle Hüllen, im Tod fallen alle Grenzen. Und wenn alle Hüllen fallen, wird die Wahrheit enthüllt, dass wir Gott gehören, ob wir leben oder sterben. Hüllen hindern uns Menschen in der Regel daran, zu dieser Erkenntnis zu gelangen. Und so gelangen wir zu dieser Erkenntnis hauptsächlich durch den Tod oder durch das Nachdenken über den Tod. Und in diesem Sinne erkennen wir manchmal die guten Seiten eines Menschen erst nach seinem Tod.
Und deshalb sind wir heute aufgerufen, das Gute in anderen zu sehen und sie zu würdigen und nicht zu warten, bis der Tod kommt. Heute sind wir aufgerufen, das Böse der Vergangenheit zu vergessen, damit ein friedliches Zusammenleben mit anderen möglich wird. Denn wenn das Böse der Vergangenheit nicht vergessen wird, wirkt es als Barriere und verdunkelt die gegenwärtige Wahrheit, die dann nicht gesehen werden kann.
Heute wollen wir uns an das Leben derer erinnern, die verstorben sind. Es sind die Leben, an die man sich erinnern muss. Es sind die guten Erinnerungen, die nicht vergessen werden
dürfen. Und dazu sind wir heute aufgerufen. Das Böse verdient es nicht, in Erinnerung behalten zu werden, und wenn es dennoch in Erinnerung behalten wird, besteht die Gefahr, dass es zuerst die
Person zerstört, die sich daran erinnert. Das Böse muss also vergessen werden.
In ähnlicher Weise steht das Kreuz im Mittelpunkt des christlichen Lebens. Das Kreuz bedeutet, alle menschlichen Hüllen und Schutzschichten abzulegen, sodass der Mensch nackt und schutzlos ist. Das Kreuz bedeutet auch, dass ich keine Angst vor anderen habe. Es bedeutet, dass auch andere wichtig sind. Und so ist das Kreuz der Weg zum Frieden. Denn das Kreuz bedeutet Vergebung.
Und es ist in diesem Sinne, dass wir sagen können: „Denn leben wir, so leben wir dem Herrn, und sterben wir, so sterben wir dem Herrn.“ Das Wort „Herr“, „Kyrios“, bezieht sich auf Jesus Christus. Jesus lebte ein freies Leben, frei von Angst, frei von Sklaverei, frei von Selbstliebe, Liebe zum Geld und Liebe zur persönlichen Sicherheit. Er liebte alle, diente allen, sprach im Namen der Wahrheit und starb aus dem Mut heraus, der Wahrheit als solcher, die wir Gott nennen könnten, treu zu bleiben. Darüber hinaus ist Jesus als Christus die Verkörperung der Liebe, der Barmherzigkeit und der Vergebung und somit ist er wahrhaftig der Christus, der kosmische Christus. Hier hat das Wort Christus eine universelle Bedeutung als den Heilsbringer aller Menschen. Liebe Gemeinde, wir müssen das richtig verstehen. Ich meine hier nicht, dass alle Weltreligionen sich dem Christentum zuwenden sollen, um überhaupt zu Gott zu kommen. Aber ich meine, dass Jesus der Christus und der Heilsbringer für jeden Menschen, denn er zeigt uns, wie wir in Freiheit und ohne Angst leben können. Christus ist für uns die Hoffnung auf die Verwirklichung unserer selbst. Christus ist nicht Herr in dem Sinne, dass er lediglich eine Veränderung in unserem Leben bewirkt, sondern vielmehr in dem Sinne, dass er uns hilft, vollständig zu sein. Er befähigt uns, unsere eigene Vollkommenheit, unsere eigene Freiheit, unser eigenes Selbst zu erreichen. Christus ist der kosmische Herr, solange wir nach Liebe, nach Freiheit, nach dem vollkommenen Menschen streben, der wir am Ende alle sein werden.
Für Jesus Christus zu leben und zu sterben bedeutet, für das zu leben und zu sterben, was jeder von uns zu sein berufen ist.
„So wird also jeder von uns für sich selbst Gott Rechenschaft geben.“ Wir kommen allein auf diese Welt und verlassen sie allein. Und dieser Wahrheit können wir uns nicht entziehen, egal wie viel Schutz wir von anderen haben. Im Leben sind wir immer versucht, die Kontrolle über andere haben zu wollen oder unter dem Schutz anderer zu stehen. Aber das wird von uns nicht verlangt. Deshalb dürfen wir in unserem Leben kein Urteil über andere fällen. Liebe Gemeinde, das ist die Botschaft des heutigen Predigttextes: „lasst uns nicht mehr einander richten“. Jeder Mensch ist für sein Leben verantwortlich. Wenn alle Hüllen fallen, werden wir allein vor Gott stehen.
Wir werden Gott Rechenschaft geben. Ich möchte diesen Vers so verstehen, dass Gott unsere Unzulänglichkeiten und Schwächen vervollständigen wird. Dies ist unsere christliche Hoffnung, dass die Menschen am Ende mit Gott vereint sein und in Gott ruhen werden.
Somit können wir das Richten Gottes im Sinne von Gottes Wiederherstellung des Zerbrochenen verstehen. Was zerbrochen und zerstört war, wird ganz und neu und geheilt werden. Gott wird
unsere Gebrochenheit richten und Licht in die Dunkelheit bringen. Deshalb, liebe Gemeinde, dürfen wir hoffen, dass Gott – jenseits aller menschlichen Verwirrung und allen menschlichen Versagens,
aller politischen Spaltungen und sozialen Risse, jenseits von Gewalt, Krieg und Tod und jenseits aller privaten Schwierigkeiten – alles zum Guten wenden wird, nicht nur im Tod, sondern auch im
Leben. „Denn keiner von uns lebt sich selbst und keiner stirbt sich selbst. Denn leben wir, so leben wir dem Herrn, und sterben wir, so sterben wir dem Herrn; ob wir nun leben oder sterben, wir
gehören dem Herrn.“ Amen.
Sylvie Avakian
24.11.2024
[1] Friedrich Nietzsche, „Abschied“ (1884), Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe (15 Bände), Bd.11, (München: de Guyter, 1980), 329.