Das Gebet – Unser Wort an Gott

Das Gebet – Unser Wort an Gott 

(Joh. 16, 23b–24. 33) 

Zur Konfirmation  

 

Wahrlich, wahrlich, ich sage euch: Was auch immer ihr den Vater bitten werdet in meinem Namen, er wird es euch geben! Bis jetzt habt ihr nichts in meinem Namen gebeten; bittet, so werdet ihr empfangen, damit eure Freude völlig wird! …

 

Dies habe ich zu euch geredet, damit ihr in mir Frieden habt. In der Welt habt ihr Bedrängnis; aber seid getrost, ich habe die Welt überwunden!

 

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Liebe Konfirmationsgemeinde, ich möchte heute mit Ihnen über einen Satz aus dem Predigttext nachdenken, der lautet: „bittet, so werdet ihr empfangen, damit eure Freude völlig wird!“ (Schlachterübersetzung). Wie können wir diesen Satz heute verstehen? Also zunächst heißt es: „Bittet“. Und wir erkennen von vornherein, dass es uns aus vielen verschiedenen Gründen nicht leicht fällt, zu bitten. Manchmal denken wir, dass es nicht in Ordnung ist, um etwas zu bitten, vielleicht weil wir davon überzeugt sind, dass wir das, was wir brauchen, selbst bekommen müssen. Wenn andere uns um etwas bitten, ist das in Ordnung, aber wir bitten nie um etwas für uns selbst. Man kann also sagen, dass ein Mensch, um etwas zu bitten, wahrscheinlich Demut braucht oder zumindest das Bewusstsein, dass er nicht allein ist und nicht alleine existieren und bestehen kann.

 

In dem Satz, den wir heute näher betrachten möchten, bedeutet bitten jedoch, Gott zu bitten: „bittet, so werdet ihr empfangen“. Ist es auch schwierig, Gott im Gebet zu bitten oder Gottes Hilfe zu suchen? Auch wenn die Antwort „nein, nicht unbedingt“ zu sein scheint, ist es dennoch auch nicht so einfach, Gott zu bitten. Dafür gibt es andere Gründe. Ein Grund könnte sein, dass wir nicht wirklich davon überzeugt sind, dass Gott uns helfen kann, warum also überhaupt bitten? Oder wir fragen uns manchmal: Wenn Gott weiß, was wir brauchen, warum müssen wir ihn dann darum bitten? Wenn wir aber darüber weiter nachdenken, erkennen wir, dass Beten mehr ist, als Gott um etwas zu bitten.

 

Somit möchte ich heute mit Ihnen das Gebet nicht als bloßes Aussprechen von Worten betrachten, sondern als Öffnen des Selbst und des Herzens vor Gott. Die Konfirmandinnen und Konfirmanden haben im Unterricht gelernt: „Das Gebet ist ein Reden des Herzens mit Gott in Bitte und Fürbitte, Dank und Anbetung.“ Dieser Satz wird teilweise Martin Luther und teilweise auch Johannes Brenz (ein Weggefährte von Martin Luther) zugeschrieben. So bringt uns das Beten dazu, unser Herz vor Gott zu öffnen. Und wann immer wir das tun, Gott verleiht unserem Leben einen Sinn. Ich kann es nicht genau erklären, aber vielleicht könnte man sagen, dass Gott uns, wenn wir zu Gott kommen, als Ganzes sieht. Üblicherweise nehmen wir die Dinge im Leben nur von einer Seite wahr, auf eine sehr persönliche Art und Weise und manchmal sehr oberflächlich. Aber Gott sieht uns als Ganzes. Gott sieht unsere Vergangenheit und Gegenwart, unsere unerfüllten Träume und unser Streben nach einem guten Leben. Das Gebet bringt uns daher dazu, über unser Leben zu reflektieren und nach dem Sinn der Dinge zu suchen. Das Gebet ermöglicht uns auch andere Menschen und ihr Verhalten zu verstehen, das wir sonst vielleicht verurteilen würden. So können im Gebet Fehler korrigiert und Entscheidungen getroffen werden. Und unsere Fürbitten werden zu Herzenswünschen für andere, für die wir selbst alles tun würden.

 

Der zweite Teil des Satzes lautet: „Bittet, so wird euch gegeben.“ Aber was bedeutet das? Das ist so, als würde man jemandem sagen: „Wann immer du mich anrufst, bin ich für dich da“, als wäre ich im Standby-Modus. Ich warte und erwarte, dass du mich rufst. Das könnte ich zum Beispiel zu meiner Tochter sagen, und sie würde wissen, dass ich immer für sie da bin, wenn sie mich braucht. Ist Gott so etwas? Höchstwahrscheinlich ja, und sogar noch mehr, denn Gott ist schließlich Gott. So erkennen wir, liebe Gemeinde, dass unser Gebet eigentlich eine Antwort auf Gott ist, der bereits für uns da ist. Gott spricht zuerst zu uns, und dann antworten wir mit unserem Gebet. Zuerst kommen Gottes Worte zu uns, und dann erwidern wir sie.

 

Aber wie spricht Gott zu uns? Ich würde sagen, durch alles. Gott kommt zu uns durch das Geschenk des Lebens, durch den Atem, den wir atmen. Denn keiner von uns hat sein Leben aus eigener Kraft möglich gemacht. Gott spricht zu uns durch die Schöpfung, durch die Menschwerdung, das heißt, Gott kommt zu uns durch Jesus Christus, aber auch durch die Natur, durch die Berge und Täler, von denen die Bibel erzählt, aber auch durch andere Menschen. Und mir scheint, dass Gott vor allem durch die Armen und Bedürftigen dieser Welt zu uns kommt, damit unsere Herzen berührt werden. Die Aussage „Bittet, so wird euch gegeben“ bedeutet also nicht einfach, dass ich Gott um etwas bitte und Gott mir dann genau das gibt, worum ich gebeten habe. Aber was gibt Gott uns dann? Gott gibt uns alles, was wir brauchen: Hoffnung, Trost und Einsicht, sodass wir die Dinge besser verstehen können. Entgegen der Behauptung, dass der Glaube das Opium der Menschen sei, das sie daran hindert, sich dem Leben zu stellen, gibt Gott uns den Mut, ohne Angst für die Wahrheit einzustehen. Gott befreit uns von dem, was uns gefesselt hält, und ermöglicht uns, die Menschen zu sein, die wir immer sein wollten und sein wollen. 

 

Zum Schluss lautet der Satz: „bittet, so werdet ihr empfangen, damit eure Freude völlig wird!“

 

Aber was ist diese Freude? Zunächst ist es die Freude, nicht allein zu sein, denn wir dürfen bitten, wir dürfen Gott bitten, aber auch andere Menschen. Es ist okay, andere Menschen zu bitten. Wir alle brauchen andere Menschen, egal wer sie sind. Und dadurch erkennen wir, dass wir zu Gott und zu anderen gehören. Die Freude ist aber auch die Freude, auf Gott und auf andere Menschen antworten zu können. Wenn Gott zu uns kommt, wartet Gott auf uns, bis wir antworten. Das, liebe Gemeinde, ist die Würde eines jeden Menschen. Wir sind keine unbedeutenden Menschen. Jeder einzelne von uns hat in seinem Leben die Möglichkeit, auf vielfältige Weise auf Gott, aber auch auf andere Menschen zu antworten. Diese Möglichkeit haben wir immer. 

 

Deshalb, liebe Konfirmandinnen und Konfirmanden, vergesst Gott nicht in eurem Leben und missachtet andere Menschen nicht. Gott und andere Menschen werden euch helfen, zu offenen Menschen heranzuwachsen, offen für Gott und für jedes gute Wort und jede gute Tat. Denn ein Gebet ist mehr als Worte, ein Gebet ist Leben, ist innere Haltung und Offenheit. Vergesst nicht, eure Bibel zu lesen. Heute bekommt ihr ein Lesezeichen mit einem Vers aus dem 5. Buch Mose (30,14), der lautet: „das Wort ist sehr nahe bei dir, in deinem Mund und in deinem Herzen, sodass du es tun kannst.“ Das heißt, das Wort muss man leben, muss man sein.

 

Wenn ihr seht, dass in der Welt zum Streit und Krieg aufgerufen wird, setzt euch für den Frieden ein. Wenn ihr seht, dass die Welt die Armen und Heimatlosen entehrt, seid die Stimme der Armen. Wenn ihr seht, dass die Liebe in der Welt fehlt, dann liebt und vergebt einander, denn Gebet ist Leben und Hingabe.

 

Jesus hat die Welt überwunden, bedeutet nicht, dass er gegen die Welt war. Es bedeutet vielmehr, dass er trotz aller Konflikte, vielleicht trotz aller Feindseligkeiten, trotz aller Krankheiten in der Welt und trotz aller Schmerzen weiter geliebt hat und so einen Weg zum Frieden eingeschlagen hat. Deshalb beten wir heute in seinem Namen.

 

So sprach Jesus zu seinen Jüngern: „In der Welt habt ihr Bedrängnis; aber seid getrost, ich habe die Welt überwunden!“ Amen.

 

 

 

Sylvie Avakian

25.05.2025

 

Thomaskirche