Das Geheimnis als Erbarmen

Das Geheimnis als Erbarmen 

(Timotheus 1,12–17) 

 

Und darum danke ich dem, der mir Kraft verliehen hat, Christus Jesus, unserem Herrn, dass er mich treu erachtet und in den Dienst eingesetzt hat, der ich zuvor ein Lästerer und Verfolger und Frevler war. Aber mir ist Erbarmung widerfahren, weil ich es unwissend im Unglauben getan habe. Und die Gnade unseres Herrn wurde über alle Maßen groß samt dem Glauben und der Liebe, die in Christus Jesus ist.

 

Glaubwürdig ist das Wort und aller Annahme wert, dass Christus Jesus in die Welt gekommen ist, um Sünder zu retten, von denen ich der größte bin. Aber darum ist mir Erbarmung widerfahren, damit an mir zuerst Jesus Christus alle Langmut erzeige, zum Vorbild für die, die künftig an ihn glauben würden zum ewigen Leben. Dem König der Ewigkeit aber, dem unvergänglichen, unsichtbaren, allein weisen Gott, sei Ehre und Ruhm von Ewigkeit zu Ewigkeit! Amen.

 

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Im Zentrum des heutigen Predigttextes steht eine Aussage als wichtige Äußerung, die bis heute ihren zentralen Platz in der Tradition der Kirche und der christlichen Lehre hat: Die Äußerung lautet: „Christus Jesus ist in die Welt gekommen, um Sünder zu retten.“ Aber was bedeutet diese Aussage?

 

An erster Stelle können wir sagen, dass dieser Satz etwas über Gott aussagt. Die Aussage bedeutet, dass Gott kein abstrakter Gott ist, kein ferner Gott, weit weg von uns, ein Gott, den wir nicht kennen oder dem wir uns nicht nähern können. Wenn Gott durch Jesus, nämlich durch den Menschen Jesus, zu uns kommt, bedeutet dies, dass Gott nicht weit von Menschen entfernt ist. Gott ist kein von uns getrennter Gott, sodass wir Gott nicht auf dieselbe Weise erklären oder beweisen können, wie wir das Vorhandensein von Kirchenbänken beschreiben oder beweisen können. Wie kommen wir dann dazu die Nähe Gottes zu erfahren? 

 

Heute werde ich das Wort „Geheimnis“ verwenden, um über Gott zu sprechen, in dem Sinne, dass wir, wenn wir beispielsweise von Gott, dem Schöpfer, hören, teilweise verstehen können, dass Gott hinter allem steht, aber wie? Wann? Warum? All diese Fragen können wir nicht beantworten. Gott als Geheimnis ist ein Solches, das uns sehr nahe ist, sodass wir sagen können, es gehört zu uns oder wir gehören zu ihm, und dennoch bleibt es ein Geheimnis in dem Sinne, dass wir es nicht vollständig verstehen können.

 

Dieses Geheimnis, das wir Gott nennen, ist, wann immer wir ihm begegnen, ein Geheimnis des Lebens und des Friedens, ein Geheimnis einer neuen Schöpfung. Wenn wir also dem Geheimnis Gottes begegnen, begegnen wir ihm fast immer in Form von Erbarmen,[1] denn in Zeiten von Konflikt und Krieg strebt es nach dem Frieden, in Zeiten der Hoffnungslosigkeit und Enttäuschung nach einem neuen Anfang und neuer Schöpfung, und gibt uns so immer wieder einen Grund zu leben, zu arbeiten und zu lieben. Wann immer wir dem Geheimnis Gottes begegnen, strahlt es in uns mit seinem Licht, ähnlich dem Licht des ersten Augenblicks der Schöpfung, das alles um sich herum erleuchtet und Dunkelheit in Licht verwandelt, Fehler in neue Möglichkeiten des Seins, Hoffnungslosigkeit in neue Hoffnung: ein Geheimnis, das in uns wohnt und uns zu einer Wohnstätte für sich selbst verwandelt.

 

Die Menschen zur Zeit Jesu, die seine Taten und Worte erlebten, fanden in Jesus alles, was sie sich von einem Erlöser erhofft hatten. Durch Jesus haben die Menschen das Erbarmen Gottes erfahren können. Und so war Gott durch Jesus den Menschen sehr nahe. Gott war in den Worten und Taten Jesu gegenwärtig, denn diese waren erbarmungsvolle Taten und Worte. So können wir sagen, dass das Geheimnis Jesu Christi dasselbe Geheimnis des Erbarmens Gottes ist, das allein uns alle retten kann. Das Erbarmen rettet, liebe Gemeinde.

 

Diese Gedanken erklären uns teilweise die Aussage, die wir heute verstehen wollen: „Christus Jesus ist in die Welt gekommen, um Sünder zu retten.“. Als erstes haben wir über die Nähe Gottes gesprochen. Aber hier fehlt noch ein zweiter Punkt, damit die Rettung, oder Erlösung, sich ereignen kann. Die Rettung geschieht, liebe Gemeinde, wenn wir uns das Geheimnis Gottes, das Geheimnis des Erbarmens, annehmen und aneignen, wenn wir uns Jesus Christus aneignen. Das bedeutet, dass wir denselben Weg wie Jesus gehen und Erbarmen üben, so wie wir es selbst von Gott empfangen. Somit erkennen wir, dass wir das Geheimnis Gottes oder Jesu Christi nicht aus der Ferne betrachten können, sondern dass wir uns ihm nähern, es in uns aufnehmen und zu unserem eigenen machen müssen. Nur dann wird das Geheimnis Gottes als Erbarmen für uns wirksam sein. Dann werden wir Gott spüren können, wenn wir uns auf das Geheimnis einlassen, das hinter allem Existierenden liegt, ein Geheimnis, das nicht vollständig verstanden werden kann, das aber durch Jesus Christus zu uns kommt; ein Geheimnis, das wir im Herzen spüren können, wenn wir wachsam und achtsam für seine Gegenwart sind. Gott ist dann ein solches Geheimnis, zu dem wir ungehinderten Zugang haben, denn wann immer wir uns zum Gebet hinsetzen und Gottes Gegenwart suchen, sind wir in dem Moment bereits in Gottes Gegenwart. 

 

Das Wort Erbarmen, oder Erbarmung, kommt im heutigen Predigttext zweimal vor, und Luther übersetzt das Wort mit Barmherzigkeit. So lesen wir im Vers 13: „der ich zuvor ein Lästerer und Verfolger und Frevler war. Aber mir ist Erbarmung widerfahren“, schreibt der Verfasser des Briefes. Und wir wissen, dass der Verfasser des Briefs an Timotheus nicht der Apostel Paulus ist, sondern höchstwahrscheinlich einer seiner Nachfolger. Der Verfasser identifiziert sich mit Paulus und verwendet das Beispiel des Paulus, um zu sagen: Seht, wie barmherzig Gott ist. Wenn Gott mich, den Sünder, den Verfolger der Christen, zu einem Diener Gottes gemacht hat, dann ist Gott ein barmherziger Gott für alle. So schreibt er weiter: „Aber darum ist mir Erbarmung widerfahren … zum Vorbild für die, die künftig an ihn glauben würden zum ewigen Leben.“

 

Hier wird also das Leben des Paulus als Vorbild dargestellt. Aber wer war Paulus? Paulus, der einst aus Überzeugung Christen verfolgte, begegnet dem Geheimnis Gottes, das wir heute als Geheimnis des Erbarmens betrachten. Diese Begegnung hilft Paulus zu verstehen, dass Gott kein engherziger Gott sein kann, ein Gott nur für wenige Menschen. Vielmehr ist Gott der Gott der ganzen Welt, aller Menschen. Und so begann Paulus, diese Botschaft in der ganzen Welt zu verbreiten: eine Botschaft der Liebe, der Gnade, der Erlösung und des Erbarmens für alle.

 

Heute haben wir in der Schriftlesung das Gleichnis vom verlorenen Sohn gehört. Der jüngere Sohn eines Vaters kommt zu seinem Vater und bittet ihn um seinen Anteil am Vermögen des Vaters. Der Vater gibt seinem Sohn, was er verlangt. Der Sohn nimmt seinen Anteil und geht in ein fernes Land. Als er dort sein ganzes Geld ausgegeben hat, so dass er gar nichts mehr hat, nichts zum Essen, nichts zum Leben, denkt er an seinen Vater. Er beschließt, zurückzukehren und seinen Vater zu bitten, ihn als Diener aufzunehmen, da er es nicht wert sei, sein Sohn zu sein. Entgegen aller menschlichen Erwartungen lesen wir, dass der Vater auf die Rückkehr seines Sohnes wartet. Das Warten des Vaters auf seinen Sohn überschreitet alle Erwartungen, besonders wenn wir an eine traditionelle Familie denken, wie Jesus sie beschreibt: eine Familie in einem Dorf im Nahen Osten vor 2000 Jahren, höchstwahrscheinlich eine Familie mit etwas Besitz. In einem solchen Kontext würde man erwarten, dass der Vater seinen Sohn nicht mehr sehen will. Es kann daher gesagt werden, dass das Warten des Vaters ein Akt des Erbarmens ist.

 

Um das Verhalten des Vaters zu verstehen, kann ich nicht umhin, an eine Mutter zu denken; eine Mutter, deren Sohn oder Tochter das Haus verlassen hat und die dennoch auf die Rückkehr ihres Kindes wartet. Und so lesen wir im Lukasevangelium: „Als er noch weit entfernt war, sah ihn sein Vater und hatte Mitleid mit ihm, lief ihm entgegen, umarmte ihn und küsste ihn.“ Hier zeigt sich das göttliche Erbarmen durch die menschliche Gestalt eines Vaters. Und hier ist es auch ein Geheimnis, denn solch ein Erbarmen ist für die Mehrheit der Menschenmenge oft nicht begreifbar.

 

In diesem Gleichnis kommen somit die beiden Elemente des Erbarmens zum Ausdruck. Das Erbarmen des Vaters und die Aufnahme des Erbarmens durch den Sohn. Wäre der Sohn nicht zu seinem Vater zurückgekehrt, könnten wir heute nicht über die Barmherzigkeit des Vaters sprechen. Und genau das fällt den meisten Menschen oft schwer. Wir können nur schwer akzeptieren oder zugeben, dass wir einen Fehler gemacht haben; wir bleiben lieber dort, entbehrend der Gnade, und verharren dort, anstatt zum Vater zurückzukehren.

 

Lasst uns, liebe Gemeinde, nicht zögern, das Erbarmen Gottes anzunehmen, und lasst uns nicht zögern, anderen Erbarmen zu erweisen, und vor allem lasst uns Gott nicht vergessen. In diesem Sinne möchte ich die Predigt mit den Worten des Kirchenvaters Johannes Chrysostomos aus dem 4. Jahrhundert schließen: „An Gott gedenken erschließt der Seele, was in ihr ist.“ Amen.

 

 

Sylvie Avakian