Erhaben über alle Höhen
(Jesaja 2, 1-5)
Bevor ich den Predigttext für heute vorlese, möchte ich darauf hinweisen, dass ich beim Vorlesen des Textes das Wort ‚Herr‘ durch das hebräische Originalwort ‚Jahwe‘ ersetzen werde. Jahwe bedeutet im ursprünglichen hebräischen Sinn ‚der Existierende‘, abgeleitet vom hebräischen Wort הָיָה (hāyâ): „sein, werden, geschehen, existieren, stehen, vorkommen, zustande kommen‘. Das Wort Jahwe (Jhwh) wurde damals schließlich nur von Priestern im Jerusalemer Tempel laut ausgesprochen, da er als heiliger Name galt. Nach der Zerstörung des Tempels im Jahr 70 n. Chr. wurde der Name nicht mehr ausgesprochen und das Wort ‚Jahwe‘ wurde durch das hebräische Wort ‚Adonai‘ ersetzt, was Herr [Kyrios, κύριος] bedeutet. Dadurch ging ein Großteil der Bedeutung des Wortes verloren, denn Gott ist mehr als ‚Herr‘. Vielleicht kann man sagen, dass Jahwe der Spender der Existenz und des Seins ist, die schöpferische Kraft hinter allem.
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Das Wort, das Jesaja, der Sohn des Amoz, über Juda und Jerusalem schaute: Ja, es wird geschehen am Ende der Tage, da wird der Berg des Hauses Jahwehs [des HERRN] fest gegründet stehen an der Spitze der Berge, und er wird erhaben sein über alle Höhen, und alle Heiden werden zu ihm strömen. Und viele Völker werden hingehen und sagen: »Kommt, lasst uns hinaufziehen zum Berg Jahwes [des HERRN], zum Haus des Gottes Jakobs, damit er uns belehre über seine Wege und wir auf seinen Pfaden wandeln!« Denn von Zion wird das Gesetz ausgehen und das Wort Jahwes [des HERRN] von Jerusalem. Und er wird Recht sprechen zwischen den Heiden und viele Völker zurechtweisen, sodass sie ihre Schwerter zu Pflugscharen schmieden werden und ihre Speere zu Rebmessern; kein Volk wird gegen das andere das Schwert erheben, und sie werden den Krieg nicht mehr erlernen. — Komm, o Haus Jakobs, und lasst uns wandeln im Licht Jahwes [des HERRN]! —
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„Komm[t], … und lasst uns wandeln im Licht Jahwes.“ Wie können wir diese Aussage heute verstehen? Diese Aussage enthält mehrere Wörter. Das erste ist „kommt“, was bedeutet, dass wir aufgerufen sind, uns zu bewegen, dass wir aufgerufen sind, zu kommen. Heute sind wir alle in die Kirche gekommen, wir haben uns bewegt, und das ist etwas Gutes, das wir jeden Tag tun können. Wir sollen in Bewegung bleiben, sagt uns der heutige Predigttext, und wir sind aufgerufen, uns Jahwe zu nähern. Aber wie können wir uns Jahwe nähern? Jahwe steht hier für den Schöpfer des Lebens und aller Wesen, für den Schöpfer unseres eigenen Lebens und Seins aber auch des Lebens aller Menschen. Und deshalb bedeutet sich Gott oder Jahwe zu nähern unter anderem auch, sich selbst zu nähern, der eigenen Wahrheit, aber auch der Wahrheit, die über uns hinausgeht. Wir sind also nicht der Mittelpunkt von allem, aber wir sind innerlich und wesentlich mit Jahwe verbunden, solange wir existieren, solange wir atmen, denn er ist der ‚Grund‘ dieser Existenz. Über Bewegung sollte noch eins gesagt werden, nämlich dass sie im Wesentlichen eine innere Bewegung ist, eine Bewegung des Herzens, denn Gott kann nur im Herzen angenähert werden.
Vielleicht können wir uns Gott als einen Berg vorstellen, einen Berg aus Licht. Und vielleicht hilft es uns dabei, wenn wir uns Gott als den Heiligen Geist vorstellen. So stelle ich mir Gott oft vor, und es hilft mir, Gott ein wenig besser zu verstehen. Gott ist heilig, das heißt rein, getrennt von jeder Möglichkeit, Böses zu tun, oder zu sein. Und Gott ist Geist, was bedeutet, dass Gott kein Ding ist wie die Dinge in der Welt, noch ist Gott ein materieller oder physischer Gott wie wir, sondern als Geist wahrgenommen werden kann. Lasst uns nun noch einmal versuchen, uns vorzustellen, wie wir uns einem Berg nähern, einen Berg des Heiligen Geistes und des Lichtes. Bald werden wir erkennen, dass wir uns diesem Berg nähern, indem wir eins mit ihm werden. Sich der Heiligkeit nähern bedeutet, heilig zu werden, wenn auch nur teilweise. Sich Gott, dem Geist, nähern bedeutet, sich bewusst zu werden, dass auch uns ein Geist gegeben ist, dass wir nicht nur biologische Wesen sind, sondern auch Wesen mit einem Geist. Wir können uns also nicht dem Licht nähern und zugleich in der Dunkelheit bleiben. Wir werden zum Licht, und das ist die Bedeutung der Worte Jesu, aus der Bergpredigt, die wir in der Schriftlesung (aus dem Matthäusevangelium) gehört haben: „Ihr seid das Licht der Welt.“ Wir müssen uns also jeden Tag bewegen und uns dem Berg des Lichts und des Geistes nähern, damit wir selbst Licht in der Welt werden. Und daher der Aufruf, Teil des Berges zu sein, selbst ein Berg zu sein.
Dies bringt uns zum zweiten Wort (oder den nächsten Wörtern) der Aussage: „Komm[t], … und lasst uns wandeln im Licht Jahwes.“ Es heißt also: „Lasst uns wandeln.“ Und Sie fragen sich vielleicht: „Aber wie lange?“ Und glauben Sie mir, ich würde dieselbe Frage stellen. Auch wenn ich weiß, dass der Weg kein Ende hat. Es wird in unserem Leben keinen Zeitpunkt geben, an dem wir sagen werden, dass wir alles geschafft haben, dass wir bereits da sind, mit dem Berg des Lichts und des Geistes vereint. Sondern wir müssen immer weitergehen, jeden Tag. Deshalb heißt es im Predigttext: „Es wird geschehen am Ende der Tage.“ Also, am Ende von allem. Das bedeutet, dass wir jeden Tag mehr lernen müssen, uns vom Licht und Geist Gottes korrigieren lassen müssen, damit wir der Reinheit, die vor uns liegt, näherkommen können. Und wenn wir auf Jesus schauen, sehen wir, dass das Ende für ihn das Kreuz war. Am Kreuz ist Jesus erhöht. Am Kreuz ist Jesus der höchste Berg unter allen Bergen. Am Kreuz ist Jesus von den Toten auferstanden, weil er dort eins mit dem Licht und Geist Gottes ist. Am Kreuz hat Jesus alles Materielle hinter sich, er hat die Königreiche der Welt hinter sich gelassen. Jesus hat Schmerzen und Leiden ertragen, damit wir heute sagen können, dass der Leidende erhöht ist, dass der Leidende der höchste aller Berge ist und über alle Hügel erhoben sein wird.
Im Predigttext steht der schöne Ausdruck: „damit er uns belehre über seine Wege und wir auf seinen Pfaden wandeln“. Und Gott, liebe Gemeinde, lehrt uns nicht aus der Ferne und ist kein Lehrer, der irgendwann müde wird und aufhört zu lehren. Gott lehrt uns ununterbrochen in unseren Herzen. Jedes Mal, wenn wir nicht wissen, wie wir in unserem Leben weitermachen sollen und wie wir uns dem Berg des Lichts und des Geistes nähern können, wird der Berg selbst den Weg in uns bahnen, damit wir gehen können. Es ist nicht so, dass es einen Weg außerhalb von uns gibt, sondern alle Wege im Leben beginnen im Herzen, in uns. Jedes Mal, wenn wir enttäuscht und hoffnungslos sind, weil wir nicht erreichen können, was wir wollen, wird uns dieser Berg aus Licht und Geist trösten. Er wird uns daran erinnern, als würde er zu uns sprechen: „Mach weiter, und eine Tür wird sich öffnen, damit sich alles in deinem Leben zum Guten wendet.“ Jedes Mal, wenn wir uns verloren fühlen und nicht zwischen Gut und Böse unterscheiden können oder wollen, und immer dann, wenn wir uns dem Berg des Lichts nähern, wird er uns zeigen, was gut ist, und wir werden es im Herzen erkennen. Jedes Mal, wenn wir Angst und Unruhe im Leben verspüren und uns dem Berg des Lichts und des Geistes nähern, wird er uns sagen: Fürchte dich nicht, ich bin bei dir. Ich, der dein Leben ermöglicht, ich, der dir den Atem zum Atmen schenkt, bin mit dir und in dir.
Der letzte Teil der Aussage lautet: „im Licht Jahwes“. Und hier kommen wir zu einem wichtigen Aspekt dieses Lichts. Es wird das Licht Jahwes genannt, das Licht des Schöpfers des Himmels und der Erde, das Licht desjenigen, der Leben gewährt und alles möglich macht. Und wir erkennen, dass dieses Lebenspendende Licht ein Frieden bringendes Licht ist; ein Licht, in dem alle friedlich sein dürfen, ohne Krieg, ohne Töten; ein Licht, in dem jedes Kind, das dem Hungertod überlassen ist, wie das Kind Jesus aussieht. Denn er hat gesprochen: „Was ihr einem dieser meiner geringsten Brüder getan habt, das habt ihr mir getan“ (Matthäus 25,40). Und ein Licht, in dem jeder unschuldige Mensch, der getötet wird, dem unschuldigen Jesus ähnelt, der am Kreuz erschlagen wurde. Dann werden wir erneut an die Bedeutung der Aussage erinnert, dass der Leidende erhöht ist, denn er hat das Materielle und Weltliche bereits hinter sich gelassen.
In diesem Sinne möchte ich diese Predigt mit dem Bild von Schwertern abschließen, die zu landwirtschaftlichen Werkzeugen umgeschmiedet werden. So lese ich aus dem Predigttext: „Und er wird Recht sprechen … sodass sie ihre Schwerter zu Pflugscharen schmieden werden und ihre Speere zu Rebmessern; kein Volk wird gegen das andere das Schwert erheben, und sie werden den Krieg nicht mehr erlernen. Komm, o Haus Jakobs, und lasst uns wandeln im Licht Jahwes [des HERRN]! Amen.
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Unser Gott, Spender des Lebens und des Lichts,
wir kommen heute zu dir, weil du zuerst zu uns kommst.
Du sprichst zuerst zu uns, du erschaffst uns jeden Tag aufs Neue und schenkst uns deine Liebe und deinen Geist.
Wir tragen deinen Geist und deinen Atem in uns, und der Weg, den wir gehen wollen, ist der Weg zu dir, zu deinem Frieden, zu deiner Freiheit, zu deinem Reich.
Du bist der Berg, den wir im Leben besteigen wollen, du bist der Weg, den wir gehen wollen, und das Licht, das wir tragen und in dieser Welt sein wollen.
Manchmal wissen wir nicht, wie wir das tun sollen, und wir denken, es sei zu viel für uns, Licht in dieser Welt voller Dunkelheit zu sein und Salz der Erde für Menschen, denen das Nötigste zum Leben und zum Sein fehlt. Hilf uns, wenn wir keinen Weg wissen. Leite uns, wenn wir die Orientierung verlieren, tröste uns, wenn wir die Hoffnung aufgeben, ermutige uns und schenke uns neue Möglichkeiten, wenn wir fallen und uns weit entfernt von deinem Berg des Lichts und des Lebens wiederfinden.
Komm zu uns, Gott, heute in unsere Herzen, komm in die Herzen aller Menschen, aller Völker.
Komm mit deiner Freiheit und deinem Frieden, komm mit deinem Geist, dem Geist der Liebe und Vergebung, dem Geist des Lebens und nicht des Todes. Hilf, dass alle Menschen sich dir zuwenden. Hilf, dass alle Menschen und alle Völker sich dem Frieden zuwenden. Wir vertrauen dir, Gott, du bist der Berg unserer Hoffnung, du bist unser Trost in Zeiten der Not. Amen.
Sylvie Avakian
10.08.2025