Christus erkennen
(Philipper 3, 7–13)
Aber was mir Gewinn war, das habe ich um des Christus willen für Schaden geachtet; ja, wahrlich, ich achte alles für Schaden gegenüber der alles übertreffenden Erkenntnis Christi Jesu, meines Herrn, um dessentwillen ich alles eingebüßt habe; und ich achte es für Dreck, damit ich Christus gewinne und in ihm erfunden werde, indem ich nicht meine eigene Gerechtigkeit habe, die aus dem Gesetz kommt, sondern die durch den Glauben an Christus, die Gerechtigkeit aus Gott aufgrund des Glaubens, um Ihn zu erkennen und die Kraft seiner Auferstehung und die Gemeinschaft seiner Leiden, indem ich seinem Tod gleichförmig werde, damit ich zur Auferstehung aus den Toten gelange.
Nicht dass ich es schon erlangt hätte oder schon vollendet wäre; ich jage aber danach, dass ich das auch ergreife, wofür ich von Christus Jesus ergriffen worden bin.
Brüder, ich halte mich selbst nicht dafür, dass ich es ergriffen habe; eines aber [tue ich]: Ich vergesse, was dahinten ist, und strecke mich aus nach dem, was vor mir liegt.
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Paulus schrieb diesen Brief an die Philipper, während er im Gefängnis saß, zu einer Zeit, als sein Tod in naher Zukunft zu erwarten war. Somit wurde der Brief höchstwahrscheinlich kurz vor seinem Martyrium in Rom, also in den frühen 60er Jahren, verfasst.
Die Frage, die Paulus im heutigen Predigttext aufwirft, lautet: Was ist im Leben das Wesentliche, sodass wir alles hinter uns lassen und uns danach jagend vorwärtsbewegen? Paulus gibt die Antwort, sie lautet: Christus. Christus ist derjenige, für den wir alles andere hinter uns lassen können, auch wenn diese in der Welt wichtig erscheinen. Genauer gesagt nennt Paulus drei Punkte als wesentliche Bestandteile des einen Hauptziels, Christus. Er schreibt: „um Ihn zu erkennen und die Kraft seiner Auferstehung und die Gemeinschaft seiner Leiden“.
Aber was bedeutet es, Christus zu erkennen? Wenn wir über die Frage nachdenken, stellen wir fest, dass Christus zu erkennen bedeutet, Christus zu lieben. Jede wahre Erkenntnis, liebe Gemeinde, ist zugleich Liebe. Natürlich kann man sagen, dass wir viele Dinge oder Menschen in dieser Welt kennen, ohne sie unbedingt zu lieben. Heute können wir diese Art von Erkennen oder Wissen über Menschen oder Dinge, die nichts mit Liebe zu tun hat, wahrscheinlich als desinteressierte Erkenntnis, oder desinteressiertes Wissen betrachten.
Das ist aber eindeutig nicht die Art von Erkenntnis, die der Apostel Paulus hier meint, sondern vielmehr die Erkenntnis, die zur Liebe führt. Diese beiden unterschiedlichen Arten von Erkenntnis finden sich auch in vielen anderen Bereichen. Es gibt also einen Unterschied zwischen dem desinteressierten Wissen über Mathematik, Naturwissenschaften oder Medizin und dem Wissen über Mathematik oder Medizin, das mit Liebe verbunden ist. Die erste Art von Wissen bleibt auf der Ebene der Information, während die zweite die Voraussetzung für Kreativität ist. Das ist derselbe Unterschied zwischen jemandem, der lehren kann, weil er es gelernt hat, und jemandem, der gerne lehrt. Man kann daher sagen, dass jede wahre Erkenntnis zugleich mit Liebe verbunden ist. Und man kann noch weiter gehen und sagen, dass jede wahre Erkenntnis das Selbst mit einbezieht, denn wenn ich Mathematik, Medizin oder das Lehren liebe, finde ich mich selbst, wenn ich sie ausübe. So werde ich zu dem, was ich bin, es wird Teil von mir und ich werde Teil davon. So etwas ist die Erkenntnis Christi. In Jesus Christus finden wir uns selbst, denn er ist das Ebenbild, nach dem wir geschaffen sind, nach dem wir leben und sterben können (An anderer Stelle beschreibt Paulus Christus als den zweiten Adam: 1.Korinther 15,47). Und in diesem Sinne können wir die Aussage verstehen, dass wir uns mit dem identifizieren, was wir lieben.
Aber verdient die Erkenntnis Christi oder die Liebe zu Christus wirklich, dass wir alle anderen Gewinne im Leben und damit alles als Verlust betrachten, wie es Paulus schreibt, der mit dem Tod im Gefängnis ringt? Ist dann auch die Erkenntnis Christi für uns wichtig? Jesus Christus, liebe Gemeinde, steht für uns heute für das Göttliche und das Menschliche. In Jesus Christus erfahren wir sowohl Gottes Heilswerk in der Welt als auch die Antwort des Menschen auf das Göttliche. In Jesus Christus kommt Gott zu uns. Gott kommt zu uns in und durch einen Menschen, und wir können auch sagen, dass Gott in und durch jeden Menschen zu uns kommt. So finden wir in Jesus Christus alle Menschen: die Alten und die Jungen, die Reichen und die Armen, unsere Lieben und die uns Fremden, die Opfer und die Übeltäter. In ihm haben alle ihre Wurzeln, und nur als Zukunftshoffnung können wir sagen, dass in ihm alle eins werden.
Das hilft uns zu verstehen, dass wir, wenn wir sagen, dass Jesus Christus das Wesentliche ist, auch sagen, dass jeder Mensch das Wesentliche ist. Jeder Mensch ist wichtig und verdient es, als wichtig angesehen zu werden, und zwar über jeden Profit, jeden Gewinn, jedes Gesetz und jeden Plan hinaus.
In Christi Licht erhält alles und jeder das Licht, das ihm zusteht. Die Dinge werden klarer und gerechter gesehen. Im Licht Christi gibt es kein „wir“ gegen „sie“, sondern jeder Mensch strahlt als Lichtquelle in sich selbst und mit allen anderen. In diesem Sinne gibt Christus uns den Sinn unseres Lebens, das Ziel, nach dem wir streben können. Als Bartimäus, der blinde Bettler, von Jesu Besuch in der Stadt hört, spürt er, dass dieser Mensch ihm Licht schenken kann, nicht nur für seine Augen, sondern für sein Leben und für die Zukunft. So lesen wir im Markusevangelium, dass Bartimäus seinen Mantel abwirft, aufsteht und zu Jesus kommt. Als Jesus ihn fragt, was er für ihn tun könne, lesen wir Bartimäus' Antwort: „Rabbuni [Meister], dass ich sehend werde!“ Im griechischen Original bedeuten Bartimäus' Worte „lass mich wieder sehen“ „hilf mir, zurückzubekommen, was mir zusteht, hilf mir, wieder gesund zu werden“ (10,46-53).
In Christus, liebe Gemeinde, sind wir geheilt. Wir sind geheilt von der Blindheit des Herzens, von der Selbstsucht. Wir sind geheilt von den Ängsten und Sorgen, die uns die Welt auferlegt. Die Welt macht uns nicht unabhängig, sondern immer abhängig von anderen, von Systemen, von Autoritäten, von Ämtern, damit alles so funktioniert, wie geplant oder gewünscht. Nur Christus befreit uns von jeder Angst. Im Licht Christi haben wir nichts zu befürchten. Selbst unsere eigenen Fehler werden als Unzulänglichkeiten gesehen, von denen wir geheilt werden, wenn wir uns ihm nähern. Im Licht Christi wird alle Finsternis enthüllt und alles Verborgene aufgedeckt.
Wenn Christus alles ist, wenn wir uns selbst, alle Menschen und auch Gott in Christus finden können, was sollen wir dann als Verlust betrachten? Paulus stellt uns auch die Antwort auf diese Frage. Er schreibt, dass es die „eigene Gerechtigkeit aufgrund des Gesetzes“, ist, die er als Verlust oder Schaden betrachtet. Und das Gesetz, liebe Gemeinde, steht hier für falsche Religiosität. Der Glaube als Gesetz kann uns beruhigen, wenn wir alle unsere Pflichten erfüllen, oder uns in Angst versetzen, wenn wir dies nicht tun. Es ist bedauerlich, dass der Glaube in der Vergangenheit und vielleicht sogar heute noch als etwas im Wesentlichen Gesetzliches und Verpflichtendes dargestellt wird. Denn der Glaube hat nichts mit Gesetz oder Pflicht zu tun. Der Glaube hat mit Liebe, Demut, Freiheit, Dienst, Vertrauen, Barmherzigkeit und Vergebung zu tun. Und Gott ist kein Richter, der irgendwo über uns sitzt und unsere Taten beobachtet.
Und doch muss zugegeben werden, dass Christus jeden Tag zu suchen eine große Herausforderung ist, an der wir oft scheitern können. Es erfordert große Wachsamkeit, ein Bewusstsein für das Licht Christi. Und es erfordert viel Schmerz und Leid, denn dies ist oft ein einsamer Weg. Die überwiegende Mehrheit der Menschen wählt den leichteren Weg und folgt der Menschenmenge. Anstatt Christus zu suchen, suchen die Meisten weltliche Sicherheit, auch wenn sie mit falschen Mitteln erreicht werden kann. Die aktuelle Kriegsfrage ist ein deutliches Beispiel dafür. Können Waffen wirklich Frieden sichern? Kann Töten Leben ermöglichen? Hat Jesus nicht gesagt „alle, die zum Schwert greifen, werden durch das Schwert umkommen“ (Matthäus 26,52)? Aber wie bereits erwähnt, ist es ein sehr schwieriger Weg, Nein zu den Mitteln der Welt zu sagen. Am Ende bleiben wir allein, und hier werden wir an die Worte des Paulus im Predigttext erinnert: „um Ihn zu erkennen und die … Gemeinschaft seiner Leiden, indem ich seinem Tod gleichförmig werde“. Auf diese Weise sollen wir an seinem Leiden teilhaben, damit wir auch die Auferstehung erfahren können. Schmerz und Leid, liebe Gemeinde, gehören zu unserem Leben. Sie gehören zum Menschsein auf Erden. In Zeiten der Bedrängnis dürfen wir jedoch, wie Jesus, auf Gott vertrauen. Und Gott wird uns die Kraft geben, durchzuhalten. Diese Kraft ist dieselbe Kraft der Auferstehung. Es ist eine Kraft im Herzen, eine Kraft, die wir brauchen, um weiterhin auf das Ziel zuzugehen. Wir können auch sagen, dass in der Liebe eine Kraft enthalten ist, die niemals stirbt.
Christus zu erkennen, bedeutet also, eins mit ihm zu sein, und das ist eine lebenslange Reise. Lasst uns, liebe Gemeinde, vergessen, was hinter uns liegt, und nach dem greifen, was vor uns ist. Amen.
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Gott, unser Vater,
du hast uns das Leben geschenkt,
und dein Licht verliehen,
du heilst unsere Wunden,
du bist die Quelle unserer Kraft,
du bist unser Befreier und Retter.
Dennoch ist es nicht leicht, Gott, dich in dieser Welt zu erkennen,
deine Stimme zu hören,
dich um uns herum, in uns und in den Menschen, in allen Menschen zu erblicken.
Vielleicht weil wir dich nicht mit den Augen sehen, dich nicht berühren können, während die Welt uns Erfolg und Macht verspricht, greifbaren Erfolg und greifbare Macht.
Und so scheitern wir oft. Wir treffen oft falsche Entscheidungen und vertrauen dir nicht vollständig.
Wir spüren aber dich, Gott. Du bist doch in unseren Herzen, in unseren Gedanken. Wir können dich erkennen, wenn wir dich suchen. Du bist ein Gott, den wir finden können, denn jedes Mal, wenn wir nach der Wahrheit suchen, können wir sie erkennen. Jedes Mal, wenn wir nach dem Licht suchen, sind wir im Licht.
Du vergibst uns immer wieder Gott und schenkst uns jeden Tag eine neue Gelegenheit, deinem Wort zu folgen, Jesus Christus nachzugehen.
Heute denken wir an alle Menschen, die Schmerzen und Leid ertragen müssen.
Wir denken an alle Kinder, die hungern müssen.
Wir denken an alle Übeltäter, deren Herzen verhärtet sind.
Komm, Gott des Friedens, zu uns,
komm, Jesus Christus, in die Welt und schenke ihr deinen Frieden.
Komm, lass die Welt dich erkennen und in jedem leidenden Gesicht sehen,
komm und erweiche die Herzen, damit das Leid ein Ende hat und Menschen friedlich in deiner Schöpfung leben können.
Gib uns, Gott, die Kraft deiner Auferstehung
damit wir jeden Tag auf dich zu, auf dein Licht zu gehen können.
Sei mit unseren Familien, unseren Kindern und allen unseren Lieben damit wir Licht füreinander sein können. Amen.
Sylvie Avakian
17.08.2025